Tanzen die ganze Woche

Blaise Cendrars

Im Frühling 1908 immatrikuliert sich an der medizinischen Fakultät der Universität Bern ein gewisser Friedrich Ludwig Sauser, einundzwanzig, Bürger von Sigriswil. Er ist kein unbeschriebenes Blatt mehr, dieser zweisprachige Student aus Neuenburg. Kaum fünfzehn, ist er von zu Hause ausgerissen, hat Persien, China und Russland gesehen, ist dort Zeuge der Revolution von 1905 geworden und steht noch ganz unter dem Trauma des mysteriösen Verbrennungstods seiner russischen Verlobten Helena. Dass Krankheit ein »normaler, absoluter, unverrückbarer Zustand« sei, steht für ihn nach soviel praktischer Weltkunde bereits fest, und es verwundert nicht, dass er bald einmal von der Medizin zur Literatur überwechselt. Kollegien besucht er aber auch da keine, um so mehr, als er inzwischen zwei Studentinnen aus Russisch-Polen kennengelernt hat. Er liebt die blonde Féla und macht die schwarze Bella damit derart eifersüchtig, dass sie die Freundin zum gemeinsamen Selbstmord zwingen will. Doch diesmal kann Sauser ein Drama noch rechtzeitig verhindern und mit Fé1a nach Spiez verreisen, wo er auf Pump einen verliebten Sommer verbringt und seine ersten Liebesgedichte verbricht.1914 ist Fé1a Poznanska dann tatsächlich seine Frau geworden, aber da hat er bereits Les Paques à New York und Prose du Transsibérien publiziert und ist unter dem Pseudonym Blaise Cendrars zu jenem Dichter geworden, von dem André Malraux sagen wird, er habe für die Franzosen »die Poesie wiederentdeckt«. Bis 1925 als Lyriker und dann als Romancier lebte Cendrars sein Leben so weiter, dass es sich in seiner Intensität, Abenteuerlichkeit und Fülle nicht von dem zuletzt 40 Titel umfassenden dichterischen Œuvre abstrahieren lässt. Mit L'Or, dem Lebensroman General Suters, löste er 1925 in Amerika einen förmlichen Skandal aus, mit Moravagine und der Entdeckung des destruktiven Urrhythmus zog er 1926 in Stil und Aussage die literarische Quintessenz aus den Kriegen unserer Zeit. In Bourlinguer wiederum gab er 1948 ganz sich selbst in seiner unstillbaren Gier nach Leben und immer phantastischeren Improvisationen.

Emmène-moi au bout du monde

brachte 1956 die Gestalt der

Madame Thérèse

zutage: den fleischgewordenen Mythos von Paris, das Sinnbild abgründigster menschlicher Sehnsüchte. Überhaupt: jede Seite in Cendrars Büchern ruft im Leser Reaktionen wach, und nicht selten sind es Ausrufe spontanen Entzückens! Wie hinreissend lesen sich z. B. all die Bücher mit lateinamerikanischem Hintergrund! Wer sie kennt, wundert sich kaum noch, dass der Brasilianer Gilberto Freyre behaupten konnte, Cendrars habe »die Brasilianer brasilianisiert«.Und die Schweiz? 1987, als es seinen hundertsten Geburtstag zu feiern galt, schien der bis anhin in seiner Heimat sträflich Verkannte plötzlich zu Ehren zu kommen, ja, es brach eine eigentliche Cendrars-Welle über die Schweizer Verlagsszene herein! Eine Euphorie, die aber bald wieder in sich zusammensank - offenbar, weil das ungebärdige, normensprengende, recht eigentlich unschweizerische Werk dieses phänomenalen Autors für eine Vermarktung als helvetische Spezialität denkbar ungeeignet ist.Cendrars' Werke sind bei Denoël, Paris, 1960-1965 gesammelt herausgekommen. Deutsch liegen die wichtigsten Romane und Gedichte bei Arche, Zürich, und bei Lenos, Basel, vor.(Literaturszene Schweiz)

 

Quelle: http://www.linsmayer.ch/autoren/C/CendrarsBlaise.html